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Der Leserbrief von Melanie Tönnis „Der gemeine Einzelhändler“

Die Lebensbedingungen des gemeinen Einzelhändlers verändern sich. Copyright: shutterstock_64029073
Die Lebensbedingungen des gemeinen Einzelhändlers verändern sich. Copyright: shutterstock_64029073

Der gemeine Einzelhändler Ordnung: Händler, Unterordnung: Einzelhändler, Familie: Krämer, Gattung: Selbständig, Verwandt mit : dem trivialen Filialisten, dem altmodischen Versandhändler, dem aggressiven Onlinehändler, Exotische Kreuzungen: u.a. mit Dienstleistern u./o. Handwerkern, Merkmale/Lebensweise: Der gemeine Einzelhändler war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zahlreich in den deutschen Innenstädten beheimatet und lebte dort in einer Symbiose mit seinen Kunden. In seinem Nest (auch Geschäft oder Laden genannt) widmet sich der gemeine Einzelhändler auch heute noch dem Sortimentsaufbau und der Sortimentspflege. Doch bereits mit Beginn des 21. Jahrhunderts veränderten sich die Lebensbedingungen für den Selbständigen. Lebte er bis dato fast gänzlich ohne Fressfeinde, so musste er zu diesem Zeitpunkt einen Rück-zug seiner Kunden zur Kenntnis nehmen. Der langsamen Kundenflucht zum altmodischen Versandhändler wurde noch keine weitere Beachtung geschenkt. Sein Lebensraum schien weiterhin intakt, gestört lediglich durch den Zuzug des trivialen Filialisten in seine Kolonien.

Den existenzbedrohenden Wandel brachte die neue Gattung des aggressiven Onlinehändlers. Wie bei vielen anderen Invasoren wurde die rasante Vermehrung selbiger schnell zum Problem. Während der gemeine Einzelhändler sich oft mit teuren, kleinen Brutplätzen zufrieden geben musste, deren Zugang auch noch durch sogenannte Gebührenparkplätze erschwert wurde, konnte der aggressive Onlinehändler nahezu überall siedeln und bei Bedarf seine Kolonien problemlos vergrößern. Seine Symbiose mit den Kunden war und ist unabhängig von räumlicher Nähe oder ausgeprägter persönlicher Kundenpflege. Die zwangsläufig einge-schränkten Öffnungszeiten des gemeinen Einzelhändlers erwiesen sich hier auch als Fortpflanzungs-Nachteil. All ihre Vorteile nutzen die aggressiven Onlinehändler und bieten den Kunden den heißbegehrten „Preisvorteil“. Die Population des gemeinen Einzelhändlers ging mit dem Rückzug der Kunden stark zurück. Nur die ganz anpassungs- und widerstandsfähigen verblieben in den Kolonien. Einige wenige Einzelhändler entwickelten in Folge dessen eine regelrechte Scheu vor Kunden und vernachlässigten die so wichtige Sortimentspflege. Da sie sich außer Stande sahen den „Preisvorteil“ anzubieten, verfielen sie in eine Art Winterschlaf oder verließen ihre Nester. Andere wiederum bemühten sich um eine Wiederherstellung der Symbiose mit den Kunden. Es wurde und wird bedarfsgerecht beraten, nicht verfügbare Handelswaren werden bestellt, Dienstleistungen ergänzt. Doch auch diese Maßnahmen führen nur bedingt zu einer dauerhaft stabilen Partnerschaft, die für beide Seiten von Vorteil ist. Tief sitzt das Misstrauen auf beiden Seiten.

Was den Kunden bei der Betrachtung des Einzelhändlers oft nicht bewusst ist, dass er beim Blick in den Laden nicht einen Bruchteil des Aufwands erfasst, den ein Einzelhändler betreibt, um für seine Kunden der Richtige zu sein. Großer finanzieller, zeitlicher aber auch idealistischer Einsatz finden im Verborgenen statt. Das geht so weit, dass die Fortpflanzung und die Aufzucht des Nachwuchses leiden. Sieht sich der gemeine Einzelhändler dann auch noch dem Vorwurf der hemmungslosen Bereicherung ausgesetzt, entzieht sich das jeglichem Verständnis. Die aus der Historie des Handels heraus vorgefasste Meinung Einzelhändler seihen moderne Wegelagerer und Raubritter ist bei näherer, hoch wissenschaftlicher Betrachtung aus nicht haltbar. Ebenso wenig die Einstellung, man lasse dem ortsansässigen Einzelhändler Almosen zukommen, wenn man etwas bei ihm kaufe. Tatsache ist, dass sich heutzutage der gemeine Einzelhändler mit sehr bescheidenen Gewinnen zufrieden geben muss, mit dehnen er sein Leben und das seiner Familie bestreitet. In Zeiten absoluter Transparenz und Vergleichbarkeit ist nichts anderes denkbar. Die Symbiose zwischen Kunden und Einzelhändler wird dann wieder stabil und belastbar, wenn sich die Erkenntnis auf beiden Seiten durchsetzt, dass das Geben und Nehmen beiderseits auf Fairness beruht. Verbreitung: Nach starken Rückgängen der Population in den letzten Jahrzehnten bleibt die Hoffnung, dass sich die Anzahl der gemeinen Einzelhändler stabilisiert. Es bedarf nur ein wenig „Pflege“ durch die Kunden.

Von Melanie Tönnis